1 Einleitung
1.1 Ausgangslage und Fragestellung
Die Erfahrungen, die Frauen heute im Kontakt mit Institutionen machen, wenn sie wegen Partnergewalt Hilfe und Unterstützung in Anspruch nehmen müssen, sind das Thema der vorliegenden Untersuchung. Es sind zwei Gründe, die dafür sprechen, im Themenbereich häusliche Gewalt ein spezielles Augenmerk auf von Partnergewalt betroffene Frauen und deren Erfahrung mit dem Interventionssystem zu legen:
– Häusliche Gewalt wird am häufigsten innerhalb von Paarbeziehungen ausgeübt, und Frauen stellen in der institutionellen Hilfe bei Partnergewalt mit einem Anteil von 80 bis 100 % die dominante Opfergruppe dar.1
– In den letzten Jahren haben viele Veränderungen auf gesetzlicher und institutioneller Ebene stattgefunden, die «einen Paradigmenwechsel in der Haltung der Gesellschaft zu häuslicher Gewalt»2 anzeigen.
Die Studie untersucht, inwiefern die heutige Rechtslage und das Angebot des Unterstützungssystems für Frauen, die in der Beziehung Gewalt erleben, ihrem Bedarf entspricht, das heisst, inwiefern Recht und Interventionen bei Partnergewalt einen passenden Beitrag zur Gleichstellung der Geschlechter leisten.3 Um diesen Fragen nachzugehen, fokussiert die qualitativ-empirische Untersuchung auf Erfahrungen und die subjektive Sicht gewaltbetroffener Frauen: Wie gestalten sich die Interventionen gegen Partnergewalt im Blick derjenigen, die durch die Massnahmen geschützt und unterstützt werden sollen? Der Einbezug der (nicht nur von der Gewalt, sondern auch) von den institutionellen Interventionen betroffenen Frauen ermöglicht es, ein ganzheitliches Bild zur aktuellen Situation zu erstellen. Die Studie erweitert damit den sozialpolitischen Diskurs der Institutionen und der Politik um eine zentrale Dimension: die Perspektive der Betroffenen, für die 'das alles' getan wird.
Ein Blick zurück auf die Entwicklungen im Problemfeld 'Gewalt gegen Frauen' verweist auf einen deutlichen Wandel in der gesellschaftlichen Wahrnehmung und im Umgang mit dem Problem:
– Die Thematik ist in der Schweiz von der neuen Frauenbewegung in den späten 1970-er Jahren in die gesellschaftliche Diskussion eingebracht worden. Sie wurde ausdrücklich unter dem Blickpunkt der Ungleichstellung der Geschlechter und als Ausdruck von Diskriminierung und Unterdrückung thematisiert; so hiess es etwa 'Männergewalt gegen Frauen'. Partnergewalt wurde im ungleichen Geschlechterverhältnis situiert und es ging darum, die Situation auf individueller wie auf gesellschaftlicher Ebene zu verändern. Als innovative Antwort erfolgte die Gründung von Frauenhäusern, Hilfe zur Selbsthilfe war zentral, und für gewaltbetroffene Frauen und ihre Kinder wurden spezialisierte Angebote geschaffen. Im Zentrum stand die Bestärkung der Opfer und die Vergrösserung ihrer Handlungs- und Veränderungsmöglichkeiten.
– 1993 markierte die Einführung des Opferhilfegesetzes erstmals eine breitere, über die engagierte Arbeit von Frauenprojekten hinausgehende, gesellschaftliche Anerkennung des Themas. Schliesslich wurden ab Mitte der 1990-er Jahre, initiiert durch Frauenhäuser, Frauenberatungs-/Opferhilfestellen sowie Gleichstellungsbüros, mit der Einrichtung von Interventionsprojekten und -stellen die Sensibilisierung für das Problem, die Kooperation und ein vernetztes Vorgehen bei Gewalt in Paarbeziehungen im öffentlichen Hilfe- und Unterstützungssystem breiter vorangetrieben. Angesprochen wurden Polizei und Justiz, das Gesundheitswesen, Vormundschaftsbehörden, Männerberatungsstellen und weitere Institutionen. Ab 2000 wurden auf gesetzlicher Ebene bei Bund und Kantonen weitere Veränderungen eingeleitet, um dem Problem Gewalt in der Partnerschaft zu begegnen. Dazu gehören die Offizialisierung von Gewaltdelikten in Ehe und Partnerschaft (2004), die zivilrechtliche Gewaltschutznorm nach Art. 28b ZGB (2007) und, ab 2003, die kantonal geregelte Möglichkeit der polizeilichen Wegweisung sowie entsprechende Bestimmungen und Weisungen.4
Gewalt in Ehe und Partnerschaft gilt mittlerweile als gesellschaftlich nicht mehr akzeptierbares Verhalten, und die institutionelle Interventions- und Hilfslandschaft hat sich entsprechend verändert. Heute übernehmen mehr Institutionen Verantwortung für das Problem, Interventionen und Angebote haben zugenommen, ebenso wie die Kooperation zwischen den Institutionen. Dennoch lassen sich nebst Veränderungen auch Persistenzen feststellen. Zwei wesentliche Merkmale des Problems 'Gewalt in Ehe und Partnerschaft' sind trotz des beachtlichen Wandels erhalten geblieben:
1. Mit der Ausweitung der institutionellen Zuständigkeiten lässt sich die Tendenz feststellen, dass das Problem aus dem Kontext der Geschlechterverhältnisse gelöst wird. Beobachtbar ist beispielsweise die Durchsetzung des Begriffs 'häusliche Gewalt' in der breiten
gesellschaftlichen und institutionellen Auseinandersetzung. Dieser Begriff lässt jedoch die Geschlechterdimension des Problems unbenannt. 'Gewalt gegen Frauen' wird damit gewissermassen weiterhin – oder erneut? – in eine Tabuzone verwiesen.5 Obwohl gemäss Forschungsergebnissen in erster Linie Frauen von dieser Art von Gewalt (systematische Gewalt und Kontrolle) betroffen sind, wird dies mit der heute dominanten Problembenennung nicht länger reflektiert; respektive sowohl in der Politik als auch in den verschiedenen Praxisfeldern auch immer wieder hartnäckig angezweifelt.6
2. An der Tatsache, dass Gewalt gegen Frauen in Beziehungen nach wie vor ein verbreitetes Problem ist und viele Frauen betroffen sind, hat sich wenig geändert. Bisher stellt weder die Forschung noch die Praxis einen Rückgang der Gewaltbetroffenheit in der Partnerschaft fest.
Vor diesem Hintergrund untersucht die Studie die Frage, in welchem Masse die umgesetzten gesetzlichen und institutionellen Veränderungen heute zu einer Verbesserung der Situation gewaltbetroffener Frauen beigetragen haben. Weiter wird danach gefragt, inwiefern alte oder möglicherweise auch neue Problemlagen feststellbar sind.7 Kennzeichnend für die in den vergangenen Jahren ergriffenen gesellschaftlichen Massnahmen – Gesetzesänderungen, Anpassungen im institutionellen Interventionsvorgehen und Verbesserung der Kooperation zwischen den Stellen – ist, dass sie sich auf drei grundlegende Zielsetzungen ausrichten.
Diese lauten:
– Gewalt stoppen,
– Opfer schützen und unterstützen,
– Täter in Verantwortung nehmen und Beratung/Hilfe für Veränderung bieten.
Es sind diese drei Zielsetzungen, an denen sich das Handeln der Institutionen heute ausrichtet; sie geben die übergreifende, gemeinsame Absicht der Frauen-Unterstützungsorganisationen und der staatlichen Stellen wieder (Logar 2009). Der Konsens, wie und mit welchen übergeordneten Leitlinien dem Problem Gewalt in Ehe und Partnerschaft zu begegnen ist, ist als Quintessenz der gesellschaftlichen Veränderungen zu bezeichnen.
An dieser Stelle setzt denn auch das Interesse der vorliegenden Forschung an: Wie spiegelt sich die neue Ausrichtung der Interventionen in den Erfahrungen der betroffenen Frauen? Der Fokus wird auf die Gewaltbetroffenen gelegt, und es wird danach gefragt, wie sie – aus der individuellen Betroffenenperspektive heraus – die Interventionen und Kontakte mit den Fachleuten des institutionellen Netzes erleben. Wie nehmen gewaltbetroffene Frauen die neuen Massnahmen, die veränderten Vorgehensweisen und die intensivierte institutionelle Zusammenarbeit wahr?
Die vertiefte Auseinandersetzung mit der subjektiven Sicht und Erfahrung der Betroffenen erlaubt es, Stärken und Schwächen sowie das Potential und Lücken der heutigen Situation fundiert auszuloten. Sind die Anliegen und Ziele von Praxis und Politik in der Intervention gegen Partnergewalt bekannt, so geht es in der vorliegenden Untersuchung darum, zu erfahren, wie Betroffene die Unterstützung und Hilfe, die sie erhalten, erleben und beurteilen. Welche Massnahmen, Angebote und Vorgehensweisen erleben sie als unterstützend in ihrer Lebenssituation? Wie finden sie überhaupt zu Unterstützung – zu passender Unterstützung? Was nützt den Opfern, und was stärkt sie? Welche Kontakte sind hilfreich, und welche Kontakte sind womöglich wenig hilfreich, stellen vielleicht sogar eine weitere Belastung dar? Wie erleben die Befragten den institutionellen Umgang mit dem Gefährder? Und was hilft aus ihrer Sicht, der Gewaltsituation wirksam zu begegnen? Auf diese und weitere Fragen soll die Untersuchung Antworten ermöglichen.
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1 Bei der polizeilich bekannt gewordenen häuslichen Gewalt handelt es sich in über achtzig Prozent um Gewalt in Partnerschaften (siehe Bundesamt für Statistik 2012: 13f.). Gemäss diesen Daten sind die Geschädigten in 81,1 % Frauen und in 18,9 % Männer (ebenda: 21; eigene Berechnung). Stellvertretend für Opferhilfestellen zeigen die Beratungen der Opferhilfe beider Basel für das Jahr 2012 folgende Geschlechteranteile: 87,1 % Frauen und 12,9 % Männer (Zahlen der Beratungsstelle «limit» sowie von «männer plus»; Jahresbericht 2012: 36, eigene Berechnung). In der Institution Frauenhaus besteht die Klientel ausschliesslich aus Frauen; 2012 verzeichnete z. Bsp. das Frauenhaus Zürich die Aufnahme von 133 Frauen und 90 Kindern (Stiftung Frauenhaus Zürich, Jahresbericht 2012: 22).
2 Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (2013a: 2).
3 Das CEDAW-Komitee hält ausdrücklich fest, dass der Themenbereich «Gewalt gegen Frauen» in der UNO-Frauenrechtskonvention gegen jede Form von Diskriminierung der Frau eingeschlossen ist, die Beseitigung von Gewalt aufgrund des Geschlechts mithin ein Beitrag zur Gleichstellung bedeutet: «The definition of discrimination includes gender-based violence, that is, violence that is directed against a woman because she is a woman or that affects women disproportionately. It includes acts that inflict physical, mental or sexual harm or suffering, threats of such acts, coercion and other deprivations of liberty.» (CEDAW-Komitee, 1992) Siehe auch «Istanbul Convention»: Council of Europe (2011a).
4 St. Gallen und Appenzell Ausserrhoden waren die ersten Kantone, die 2003 die Möglichkeit der polizeilichen Wegweisung einführten.
5 In andern Ländern, zum Beispiel in Grossbritannien oder in Österreich, ist die sprachliche Zurücknahme der geschlechtspezifischen Ausprägung des Problems weniger zu beobachten; die verwendeten Begrifflichkeiten inkludieren das Geschlecht häufiger, zum Beispiel: 'violence against women' oder 'Gewalt gegen Frauen'. Zur Bedeutung der Sprache in der Formung des Problems Partnergewalt siehe auch Klein (2013) sowie Gloor, Meier (2013a).
6 Auch Männer erleiden in der Beziehung Gewalt durch die Partnerin. Indes ist, wie Forschungen aufzeigen, eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Situation betroffener Männer und betroffener Frauen notwendig. Ein Überblick dazu findet sich in: Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (2012a). Zur wissenschaftlichen Diskussion bezüglich der Debatte um von Frauengewalt betroffene Männer siehe zum Beispiel auch: Kimmel (2002); Gloor, Meier (2003); Kavemann (2009); Schröttle (2010).
7 Eine Studie aus den frühen 1990er-Jahre zeigte, dass gewaltbetroffene Frauen in der Schweiz mit dem damaligen Problemumgang seitens verschiedener staatlicher Institutionen häufig Mühe bekundeten. Zudem zeigte sich, dass – über die Intervention bei Gewalt im engen Sinn hinaus – insbesondere auch Verbesserungen im Bereich der Bedingungen im Alltag der betroffenen Frauen für eine Lösung aus der Gewaltbeziehung bedeutsam sind (Gloor, Meier, Verwey 1995).
Die vollständige Studie findenSie hier.