Frauen in den Fokus: Der ungehobene Fachkräfteschatz (2023)

Ob in der Pflege, im Handwerk oder an den Schulen: In vielen Bereichen fehlen hierzulande Fachkräfte. Der Bedarf an Arbeitskräften wächst von Jahr zu Jahr – und doch versagt die Politik massiv darin, eine potenzielle Zielgruppe von Arbeitenden wirklich in den Blick zu nehmen, nämlich Frauen, kritisiert die Journalistin Maike Rademaker.

Vor einigen Wochen ist Bundesfamilienministerin Lisa Paus mit einer bemerkenswerten Zahl an die Öffentlichkeit getreten: Würden alle Frauen mit Kindern unter sechs Jahren so viele Stunden im Job arbeiten, wie sie Umfragen zufolge gerne möchten, gäbe es in dieser Republik 840 000 Arbeitskräfte mehr.

840 000 Arbeitskräfte! Und die Zahl ist ja nur ein Teil der Wahrheit: Nicht darin enthalten sind jene Frauen, deren Kinder älter als sechs Jahre sind und die gerne mehr oder überhaupt wieder arbeiten wollen. Nicht enthalten sind auch jene, die nach Jahrzehnten der Teilzeitbeschäftigung und Kindererziehung gerne zurückmöchten in die Vollzeit, aber auf einen Arbeitsmarkt stoßen, der noch immer die Gleichen bevorzugt: männlich, jung, berufserfahren. Man kann also getrost sagen: Die stille Reserve an Frauen, an weiblichen Fach- und Arbeitskräften in Deutschland, dürfte weit über einer Million liegen. Angesichts des sich dramatisch entwickelnden Arbeitskräftemangels in Deutschland der bereits jetzt Betriebe lahmlegt und die Produktion bremst, ist das ein echter Lichtblick. Sie sind da. Sie wollen arbeiten. Sie sind qualifiziert – oft sogar besser als die Männer.[1] Sie sprechen meist deutsch. Sie leben quer verteilt in der Republik, also nicht nur in Großstädten und Industriezentren, sondern überall. Sie sind, kurz gesagt, ein Schatz für die Wirtschaft. Vor diesem Hintergrund könnte man erwarten, dass sich die Politik darum reißt, wie man diesen Schatz hebt, vor allem angesichts einer Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP. Immerhin steht an der Spitze ein Sozialdemokrat (wenn auch ein Mann), dessen Frau voll berufstätig ist, der das auch gerne betont und der das Problem akut und spürbar vor der Nase hat – die Warnungen aus den Unternehmen über die Folgen des Fachkräftemangels sind zahllos.

Dieser Artikel stammt aus der Ausgabe Januar 2023. Klicken Sie hier, um zur Inhaltsübersicht dieser Ausgabe zu gelangen.

Tatsächlich betont die Regierung in ihrer gerade vorgestellten Fachkräftestrategie als eine von drei Prioritäten, dass die Erwerbsbeteiligung von Frauen nun doch wirklich erhöht werden sollte. Dafür soll an den seit Jahren bekannten Stellschrauben gedreht werden, die mit dafür verantwortlich sind, dass zwar sehr viele Frauen erwerbstätig sind, aber jede zweite davon in Teilzeit – insgesamt neun Millionen Menschen.[2] Also will die Ampel endlich dringend die steuerlichen Anreize für Teilzeit ändern – sprich das Ehegattensplitting – und sich auch mal die Minijobs anschauen (in denen 3,7 Millionen Frauen arbeiten). Zudem steht im Koalitionsvertrag ja auch noch der Gutschein für haushaltsnahe Dienstleistungen. Und nicht zu vergessen: Kita-Ausbau wäre auch sehr wichtig, betont die Ampel in ihrem Papier.[3] Das Problem ist also erkannt. Nur: Es tut sich wenig, gar nichts oder sogar das Gegenteil des als wichtig Erkannten.

»Es tut sich wenig, gar nichts oder sogar das Gegenteil des als wichtig Erkannten.«

Man nehme das Ehegattensplitting: Die in Europa fast einzigartige – nur Luxemburg und Polen leisten sich ähnliche Modelle – systematische Benachteiligung des schlechter verdienenden Ehepartners, in den allermeisten Fällen Frauen, wird seit Jahrzehnten kritisiert, unter anderem von der EU und von der OECD. Schweden hat sie schon 1970 abgeschafft, eben mit dem Blick auf Gleichberechtigung, und führte die Individualbesteuerung ein. Und Deutschland? Lässt sich das Ehegattensplitting jedes Jahr 22 Mrd. Euro kosten[4] und bleibt dabei. Man will das Verfahren zwar demnächst – wann auch immer das sein soll – ein wenig reformieren, aber weiterhin daran festhalten. Stattdessen auf die Individualbesteuerung umstellen, nur weil Fachkräfte fehlen? Nicht mit den Ehemännern dieses Landes, die mit dem Splitting in der Regel die finanzielle Macht im Haus in der Hand haben. „Mehr Fairness“ bei diesem Steuerverfahren, wie es im Koalitionsvertrag heißt, ist noch längst nicht „ganz fair“.

Aber die Regierung tut nicht nur nichts, um wie hier den fatalen Anreiz zu Teilzeit und Minijobs zu entfernen, sondern sie erhöht ihn auch noch: Statt die arbeitsmarktpolitische Seuche Minijobs – auch so ein europaweites Unikat – endlich abzuschaffen, weil damit hunderttausende Vollzeitstellen auf Kosten der Sozialversicherung zerstückelt wurden,[5] im Handel, in der Gastronomie, im Privathaushalt, wurden sie zum Oktober 2022 noch ausgebaut. Obwohl bekannt ist, dass vor allem Frauen besonders häufig in Minijobs arbeiten – über zwei Millionen haben ausschließlich einen solchen. Obwohl bekannt ist, dass Minijobs keine Brücke in den besseren Arbeitsmarkt sind. Obwohl bekannt ist, dass Minijobs dequalifizieren, obwohl allein der Name „Minijob“ – als sei jede Woche ein paar Stunden an der Kasse oder Putzen keine Arbeit – der Entwürdigung von Hartz IV in nichts nachsteht. Brav wurde mit der Mindestlohnerhöhung auch die Minijobgrenze auf 520 Euro erhöht. Und nicht nur das – im Übergangsbereich zum Midijob zahlen Arbeitgeber jetzt mehr Sozialversicherungsbeiträge. Und das Resultat? Minijobs sind noch attraktiver,[6] allein im vierten Quartal 2022 ist die Zahl der registrierten Minijobs deutlich gestiegen.

Aber viele Frauen (und Männer) wollen doch Teilzeit arbeiten, heißt das immer wiederkehrende Gegenargument. Was machen die, wenn es keine Minijobs mehr gäbe? Dafür gibt es ein Teilzeitgesetz, mit dem man die volle Bandbreite von fast Vollzeit bis nur wenige Stunden Arbeit aushandeln kann. Andere Länder schaffen das auch – ohne diese Beschäftigten am Ende mit mageren Renten abzuspeisen und die Hürde für einen Übergang in den sozialversicherungspflichtigen Arbeitsmarkt zu hoch zu setzen.

»Warum ist es Pflicht, beim Bau eines Hauses genügend Parkplätze einzuplanen, nicht aber beim Bau einer Fabrik oder eines Krankenhauses einen Betriebskindergarten?«

Eine der wichtigsten Stellschrauben, um Frauen die Wahl zu lassen, ob und wie viel sie arbeiten wollen, sind immer noch Kitaplätze. 2023 werden davon bundesweit 384 000 fehlen, rechnete die Bertelsmann Stiftung gerade vor. Nur zur Erinnerung: Den Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz für einjährige Kinder gibt es seit 2013, für ältere Kinder seit 1996. Ja, es werden Milliarden in den Ausbau der Betreuungsplätze gepumpt. Aber es reicht bei weitem nicht. Warum ist es eigentlich Pflicht, beim Bau eines Hauses genügend Parkplätze für Autos einzuplanen, nicht aber beim Bau einer Fabrik, eines Dienstleistungsunternehmens, eines Krankenhauses einen Betriebskindergarten?

Frauen in den Fokus: Der ungehobene Fachkräfteschatz (2)

Immerhin gibt es seit 2012 das Förderprogramm „Betriebliche Kinderbetreuung“. Für die vergangenen zwei Jahre wurden dafür neun Mio. Euro bereitgestellt; Arbeitgeber können damit Ferienbetreuung anbieten oder auch die Neugründung einer Betriebskita kofinanzieren. Abgerufen wurden davon aber nur 2,2 Mio. Euro. Nun wird das Programm eingestellt – anstatt wirksam darum zu werben und damit die massive Lücke an Betreuungsplätzen wenigstens in Ansätzen zu füllen. Stattdessen werden für das Dienstwagenprivileg – Autos, die vor allem von Männern gefahren werden – Jahr für Jahr über drei Mrd. Euro aufgewandt.[7] Das sagt viel über die Prioritäten bei Politik und Wirtschaft.

Würde die Politik ernsthaft den vorhandenen Schatz an Arbeitskräften heben, würde sie also endlich vor allem Müttern den Weg in Arbeit und finanzielle Unabhängigkeit ebnen, sie würde nicht nur den Fachkräftemangel mindern, sie hätte auch gleich noch ein anderes Problem zumindest ansatzweise gelöst: Die Teilzeitfalle ist für Frauen der direkte Weg in die Altersarmut. Denn sie arbeiten weniger, verdienen weniger dank des nicht behobenen Gender Pay Gaps, arbeiten häufiger in Branchen mit geringerer Tarifbindung und schlechteren Löhnen und verfügen auch deshalb seltener über eine zusätzliche Betriebsrente. Das finanzielle Desaster im Alter ist damit vorprogrammiert.

In der Verantwortung, das Potenzial der Frauen zu heben, steht allerdings nicht nur die Politik. Auch Unternehmen und Gewerkschaften lassen es an Anstrengungen deutlich mangeln. Für wen das Maximum an Werbung um Frauen darin besteht, in der Stellenanzeige ein Sternchen oder ein „m/w/d“ zu setzen, der muss sich nicht wundern, wenn sich Frauen für diese Stellen nicht interessieren.

Pünktlicher Dienstschluss, regelmäßige und planbare Schichtzuteilung, Homeoffice-Regelungen, ÖPNV-Erreichbarkeit und Betriebskitas können viel mehr bewirken als ein Startbonus und der besagte Dienstwagen, der Bewerbenden mittlerweile gerne angeboten wird. Ganz ähnliches gilt für die Gewerkschaften: Wer sich etwa durch die Forderungskataloge bei Tarifrunden scrollt, findet neben mehr Geld zwar allerlei Extrabelange für spezielle Gruppen – wie eine geförderte Altersteilzeit, Fahrtkostenzuschüsse für Azubis oder die Übernahme der Semesterkosten für dual Studierende. Aber Zuschüsse für Kinderbetreuung? Zuschuss für die externe Pflege von Verwandten? Das sind echte Raritäten.

Anstatt die notwendige Sorgearbeit endlich mit in den Blick zu nehmen und Möglichkeiten zu schaffen, Arbeit und Familie gut miteinander verbinden zu können, wird es gesellschaftlich noch immer geduldet, dass die Beschäftigten im Jahr 2020 trotz Corona insgesamt 1,7 Mrd. Überstunden im Jahr leisteten, davon die Hälfte unbezahlt. Vielleicht hilft die nun geltende Verpflichtung zur korrekten Arbeitszeiterfassung weiter, wenn die Arbeitgeber es alleine nicht schaffen (wollen), Überstunden zu verhindern.

»Es geht darum, Müttern überhaupt eine Wahl zu lassen, ob, wie viel und wo sie arbeiten möchten.«

Heißt all das also, besser auf radikale Frauenförderung zu setzen anstatt auf Fachkräfteeinwanderung? Nein! Denn ohne Einwanderung geht es nicht. Rund 400 000 Menschen müssten netto pro Jahr nach Deutschland einwandern, damit es den Betrieben nicht an allen Ecken und Enden an Mitarbeitenden fehlt.[8] Auch die beste Frauenförderstrategie ersetzt diese Einwanderung nicht. Und alle diesbezüglichen Schritte sollen und können Frauen nicht zwingen, überhaupt oder Vollzeit zu arbeiten. Es geht vielmehr darum, Müttern endlich überhaupt eine Wahl zu lassen, ob, wie viel und wo sie arbeiten möchten und wie viel Zeit sie mit der Familie verbringen wollen – und Männern klarzumachen, dass die Zeit, in der sie die „Erwerbsesel“ waren, wie es unlängst in der „Zeit“ so schön hieß, vorbei ist.[9]

Und diese Wahl sollten nicht nur Frauen haben, die bereits in Deutschland leben: Wer die Rahmenbedingungen für erwerbstätige Frauen nicht verbessert, rechnet offenbar auch nicht damit, dass sich von der jüngst verkündeten Fachkräftestrategie auch Frauen angesprochen fühlen – und zwar statt Männer, und nicht nur als deren Partnerinnen.

Auf die Idee, dass konkurrierende europäische Länder vielleicht auch deshalb viel beliebter bei Einwandernden sein könnten, weil sie Frauen und Familien bessere Rahmenbedingungen bieten, kommt man in Deutschland bislang offenbar gar nicht. Wie wenig das mitgedacht wird, zeigt der aktuelle Umgang mit den vor dem russischen Angriffskrieg geflüchteten Ukrainerinnen: Sie sind häufig überdurchschnittlich qualifizierte Frauen, deren Willen, hier zu arbeiten, weniger an der Sprache scheitert als an der nicht vorhandenen Kinderbetreuung – und den nach wie vor absurd hohen Hürden für die Anerkennung von Berufsabschlüssen.

Und so wird die Fachkräfteeinwanderung noch immer als Option für Männer gesehen. Bürokratie abbauen ist die zentrale Forderung aus der Wirtschaft, nicht: auf Frauen, auf Familien vorbereitet sein. In anderen Ländern könnten Frauen gleich mitkommen und sofort arbeiten, klagte jüngst der Vorsitzende des Städte- und Gemeindebundes Gerd Landsberg. Mitkommen. Deutlicher geht es kaum. Fehlte nur noch: Mitverdienen.

Im Strategiepapier der Bundesregierung wird immerhin bedauernd erkannt, dass nur die Hälfte dieser einwandernden Lebenspartnerinnen und Lebenspartner erwerbstätig ist. Der Blick in die dazu angegebene Fußnote zu einer Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung lohnt sich: Die Nachgezogenen seien „sehr gut ausgebildet und mehrheitlich weiblich: Über 30 Prozent haben mindestens einen Bachelorabschluss, über 70 Prozent sind Frauen“. Und sie seien „massiv un- und unterbeschäftigt“.

Tja, warum wohl nur?!

[1] Frauen immer noch selten in Top-Jobs, www.zeit.de, 23.2.2022.

[3]Vgl. Fachkräftestrategie der Bundesregierung. Neue Wege zur Fachkräftesicherung, www.bundesregierung.de, 12.10.2022.

[4]Stefan Müller-Frank, Steuerprivileg und Teilzeitfalle, www.deutschlandfunkkultur.de, 21.9.2021.

[5]Die Beschäftigungs-Bombe: Minijobs vernichten 500 000 feste Stellen, www.focus.de, 22.10.2021.

[6]Minijob-Reform könnte Zehntausende Frauen in die Teilzeitfalle drängen, www.spiegel.de, 21.4.2022.

[7]Papa im Dienstwagen, www.faz.net, 16.9.2019.

[8]Vgl. auch den Beitrag von Stefan Schulz in dieser Ausgabe.

[9]Vgl. Eiliger Vater!, www.zeit.de, 30.11.2022.

Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Mr. See Jast

Last Updated: 01/11/2023

Views: 6372

Rating: 4.4 / 5 (75 voted)

Reviews: 82% of readers found this page helpful

Author information

Name: Mr. See Jast

Birthday: 1999-07-30

Address: 8409 Megan Mountain, New Mathew, MT 44997-8193

Phone: +5023589614038

Job: Chief Executive

Hobby: Leather crafting, Flag Football, Candle making, Flying, Poi, Gunsmithing, Swimming

Introduction: My name is Mr. See Jast, I am a open, jolly, gorgeous, courageous, inexpensive, friendly, homely person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.