Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat, forciert durch den deutschen Klima- und Wirtschaftsminister Robert Habeck, die Frage nach der Notwendigkeit von Konsumverzicht voll auf die politische Agenda gehievt. Dabei ist diese Debatte keineswegs neu. Schon vor rund einer Dekade, im Jahr 2011, veröffentlichte der „Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen“ (WBGU ) ein Gutachten mit dem Titel „Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“. Die Autoren beriefen sich darin auf das kurz zuvor in einem aufsehenerregenden Fachartikel vorgestellte Konzept planetarer Belastungsgrenzen (planetary boundaries). Dessen Kernthese lautet: Wenn die Stabilität des gesamten Erdsystems gewährleistet bleiben soll, dürfen bestimmte Kipppunkte (tipping points) nicht überschritten werden. Um dieser Gefahr vorzubeugen, so die Schlussfolgerung im Gutachten, sei es dringend nötig, unsere vorherrschenden Konsum- und Produktionsmuster zu verändern.[1]
Dass diese Große Transformation mit massiven Einschnitten und damit zwangsläufig mit Verbot und Verzicht einhergehen würde, machte der WBGU deutlich, indem er sich in seinem Gutachten für die Aushandlung eines neuen Gesellschaftsvertrags aussprach. So wie sich in der klassischen Vertragstheorie die Menschen aus freien Stücken einer Regierungsform unterwerfen, um dem Chaos des Naturzustandes zu entgehen und somit ein Stück ihrer persönlichen Freiheit aufgeben, so müsse auch heute das gesellschaftliche Leben neu geregelt werden, um den Fortbestand der Menschheit auf dem Planeten Erde zu sichern. In einem wie auch immer gearteten neuen Gesellschaftsvertrag würden sich die Menschen darauf einigen, dass zum Wohl aller und zum Wohl zukünftiger Generationen Veränderungen notwendig seien. Ob nun explizit formuliert oder nicht: Das Gutachten legte damit nahe, dass bestimmte Dinge – aus guten Gründen – in Zukunft verboten sein würden und die Menschen Verzicht üben müssten.
Die Presseresonanz war schroff. In der „Welt“ sprach ein Autor von „Ökodiktatur pur“ sowie von antidemokratischem und jakobinischem Denken.[2] In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ nahm man Anstoß an der Vorstellung eines „gestaltenden Staates“, dessen Aktivitäten nur „einem seltsamen Demokratieverständnis“ entsprungen sein konnten. Insgesamt wurde die Aufforderung zur Transformation als absurde Spinnerei abgetan.[3]
Neben dem immer wieder beschworenen Drohszenario einer Ökodiktatur ist seitdem vor allem die Verbotspolitik zu einer im politischen Diskurs reflexartig und inflationär genutzten rhetorischen Floskel geworden. Sie wird verwendet, um auf vorgeschlagene Maßnahmen zu reagieren, die das Konsumverhalten der Bürger vor dem Hintergrund einer Transformation hin zu mehr Nachhaltigkeit verändern wollen – sei es durch ein Tempolimit auf Autobahnen, die Reduzierung von Fleischkonsum oder das Verbot von Plastikverpackungen oder Inlandsflügen.
Die Empörung über eine Verbotspolitik richtet sich in Deutschland in den meisten Fällen gegen die Vorschläge von Bündnis 90/Die Grünen. Daher ist häufig auch von „grüner Verbotspolitik“ die Rede. Insbesondere der Vorschlag zur Einführung eines Tempolimits auf Autobahnen ruft regelmäßig eine lautstarke Gegenwehr hervor, die den vermeintlich religiösen Fanatismus hinter der Einschränkung der persönlichen Freiheit geißelt. So schrieb der Chefredakteur einer großen Tageszeitung im Jahr 2013 unter der Überschrift: „Tempolimit – Auf dem Weg zum unmündigen Bürger“ ohne jeden Anflug von Ironie: „Die Autobahn symbolisiert einen Raum maximaler Freiheit – in einem Land, das weitgehend lahmreguliert worden ist. [...] Die Existenz aber solcher Freiräume provoziert den eifernden Gegenwarts-Pietismus, der in Gestalt der rot-grünen Opposition den Alltag der Menschen mit einem Katechismus umfassend regeln will.“ Anscheinend sei das Ideal dieser Parteien „ein Überstaat“, der „möglichst umfassend in die Freiheitsrechte seiner Bürger eingreift, um diese zu einem lahmen, anständigen und naturgefälligen Leben ohne luxuriöse Extravaganzen zu zwingen“.[4]
Inzwischen hat sich der Vorwurf der Verbotspolitik allerdings auf fast jede Form geplanter politischer Veränderungen ausgeweitet – sogar auf die, die von der Regierung in Angriff genommen werden. Der Begriff ist überall, in Verlautbarungen des Bundesverbandes Rind und Schwein („Verbotspolitik der Bundesregierung gefährdet Landwirtschaft“[5]) ebenso wie in Statements der Chef-Lobbyistin der Autobauer („Fortschrittswachstum statt Verbot und Verzicht“[6]). Selbst Regierungsmitglieder versuchen bewusst, sich in diesem Sinne zu profilieren. Bundesratsinitiativen werden von Bundesministern mit der Pauschalbegründung abgelehnt, es gebe schon „genug Verbote“.[7] Als seien grundsätzlich jedes Verbot und jedes weitere Verbot unangemessen.
Die fanatischen Gegner der Verbotspolitik kennzeichnet eine fatale Überzeugung: Der aktuelle Lebensstil muss nicht angepasst werden. Eine Politik ohne Verbote und Einschränkungen sei nicht nur möglich, sondern selbstverständlich. Damit verbunden ist die Vorstellung, die auch den Koalitionsvertrag der Ampel kennzeichnet, wonach die Herausforderungen des Klimawandels und der Umweltzerstörung sich allein durch innovativen technischen Erfindergeist und durch die rationalen Dynamiken des Marktes in den Griff bekommen lassen – in jedem Fall ohne staatliche Einschränkungen und „Bevormundungen“.[8]
Die Verteidigung der »Freiheit«
In diesem Zusammenhang wird in aller Regel der Begriff der Freiheit bemüht. Verbote und Verzicht verringerten die persönliche Freiheit – weniger in einem politischen als im Sinne je eigener Konsumentscheidungen. Ein von allen „Volksparteien“ gern genutzter Topos ist dabei das Bild des „kleinen Mannes“ (oder natürlich der „kleinen Frau“), der sich redlich abrackere und dem man wie dem Tabak verehrenden Lehrer Lämpel in Wilhelm Buschs „Max und Moritz“ doch bitte seine kleinen Freiheiten und Freuden gönnen solle. Der Topos hilft, um Verbotspolitik als sozial extrem ungerechten Eingriff in ein selbst erarbeitetes und damit zweifelsfrei wohlverdientes Konsumverhalten darzustellen.[9] So sah sich der damalige Fraktionschef der Union, Ralph Brinkhaus, 2019 zu der Verlautbarung veranlasst, dass er sich nicht schäme, Menschen zu repräsentieren, die „mit einem Verbrennungsmotor unterwegs sind, Nackensteaks essen und fleißig sind“. Schließlich seien diese „das Rückgrat unserer Gesellschaft“.[10]
Verbotspolitik verliert so jede Berechtigung. Die besondere Spezies des im Schweiße seines Angesichts überlebenden Bürgers genießt absoluten Schutz und verdient maximale Freiheit. Sie darf nicht Ziel von Verboten und Verzicht sein. Die Überzeugung, der Staat dürfe das Leben und damit das Konsumverhalten seiner Bürger nicht regeln, ist jedoch nicht nur ein Glaubensgrundsatz bestimmter politischer Milieus. Sie ist mittlerweile tief in der Gesellschaft verankert. Auch die Reaktionen auf die Corona-Maßnahmen haben diese Haltung unmissverständlich deutlich gemacht. Staatlich verordnete Verhaltensregeln wurden von manchen als illegitimer Eingriff in die autonomen Handlungsentscheidungen der Bürger zurückgewiesen. Das Wort „Freiheit“, verstanden als die Erlaubnis, trotz Ansteckungs- und eventuell Lebensgefahr alles tun und lassen zu können, was man möchte, wurde bei Protesten ebenso oft bemüht wie der Begriff und das Schreckensbild der vermeintlich existierenden oder unmittelbar bevorstehenden Corona-Diktatur seitens der sogenannten Querdenker. Die Steigerung war dann der Vergleich mit den Bevormundungen des SED-Regimes der DDR. Insbesondere diese Bewegung zeichnet sich dadurch aus, sich nichts vorschreiben lassen zu wollen. In einer demokratischen Regierung erblickt sie eine Tyrannendespotie, die es wagt, Konsumfreiheiten einzuschränken. Die extreme Haltung, als Individuum im Namen der eigenen Freiheit völlig ungestört tun und lassen zu können, was man will, sich weder einschränken zu müssen noch sein Verhalten zum Nutzen des Allgemeinwohls anzupassen, hat sich über die letzten Jahre immer stärker und in allen Lebenslagen verbreitet. Eine Richterin am Bundesgerichtshof stellte in einem Interview erstaunt fest: „Es ist doch eine Binsenweisheit, dass meine Freiheit immer nur so weit reicht, bis sie die Sphäre der anderen berührt. Ich wundere mich, dass man es als Zumutung empfindet, sich ein wenig einzuschränken im Interesse der anderen.“[11] Die so empfundenen Zumutungen lauten: Verbot und Verzicht.
Konsum als erste Bürgerpflicht
Entscheidend für die radikale Ablehnung von Verbot und Verzicht ist der Stellenwert des individuellen Konsums. Zum einen, weil in den aktuellen Transformationsdebatten ein Verbot immer den individuellen Konsum beschneiden würde; zum anderen, weil Konsum und das Recht, ungehindert zu konsumieren, das genaue Gegenteil von Verzicht sind.
Dass der Konsum jedoch solch eine Sonderrolle einnimmt, liegt am Glauben an die sogenannte Konsumentensouveränität. Der Begriff geht auf neoliberale Autoren wie William Hutt und Ludwig von Mises zurück. Mit diesem Konzept wurde nicht nur das Recht auf unbegrenzten und unreglementierten individuellen Konsum abgeleitet. In dieser Vorstellung löste auch der Konsument den politischen Bürger als Souverän ab. Um das Gemeinwesen effizient zu gestalten, war daher unbegrenzter individueller Konsum maximal geboten. Konsum wurde zur ersten Bürgerpflicht. Freiheit wurde zur ungestörten Konsumentscheidung und die Demokratie zu einer democracy of the consumer. Der Neoliberalismus fußt auf der Vorstellung eines allseits Nutzen spendenden Effekts des individuellen Konsums. Freie Märkte und damit Freiheit existieren nur, wenn konsumiert wird und der Einzelne nach Herzenslust konsumieren darf. Während in der Mehrheitsdemokratie individuelle Wünsche eingeschränkt werden können, ist das am Markt nicht der Fall. In puncto Freiheit, so die Neoliberalen, ist der Markt der Demokratie um Längen voraus. Wie schön ist doch eine Welt, in der man sich gar nicht am Allgemeinwohl orientieren muss, sondern ungestört nur an sich selbst denken darf!
Der phänomenale Erfolg des Neoliberalismus beruht auch darauf, dass genügend Menschen davon überzeugt worden sind, dass diese neoliberalen Grundprämissen einen unumstößlichen, naturgesetzlichen Charakter haben. In der heftigen Reaktion auf Verbotspläne und Verzichtszumutungen zeigt sich das überdeutlich. Die Ideologie des Neoliberalismus lässt den Schluss zu, dass Verbot und Verzicht, vom Staat verordnet, illegitime politische Instrumente sind und unterlassen werden müssen. Aber der Neoliberalismus basiert nicht auf Annahmen, wie die Welt wirklich ist – er basiert auf einer Weltanschauung, wie die Welt sein sollte. Ironischerweise ist die politische Nachhaltigkeit des Neoliberalismus kein evolutionärer Zufall, sondern das Ergebnis eines ausgetüftelten Plans neoliberaler Wissenschaftler, Denkfabriken und Interessenvertretungen, die jahrzehntelang in der westlichen Welt nicht müde wurden, die Politik mit der „Natürlichkeit“ der neoliberalen Ideen zu füttern.[12] Der Triumph des Neoliberalismus zeigt sich letztendlich in einer Politik, die im Geiste des Unterlassens steht. Individuen erwarten vom Staat, möglichst mit Verbots- und Verzichtsideen in Ruhe gelassen zu werden. Politiker orientieren sich am Vorbild eines möglichst untätigen Minimalstaats, der gar nicht in Betracht zieht, das Verhalten seiner Bürgerinnen und Bürger dann zu reglementieren, wenn es aus Nachhaltigkeitsgesichtspunkten der Allgemeinheit mehr schadet, als es dem Einzelnen nützt.
Der Neoliberalismus hat eine ganz eigene Vorstellung davon, was eigentlich der Staat ist: Der Staat ist etwas grundsätzlich anderes als die am Markt agierenden privaten Einzelpersonen. Staat und Individuen sind physisch getrennte Einheiten. Wenn sich der Einzelne vorrangig als wirtschaftlicher Akteur definiert und sich nicht in einer anderen sozialen Funktion sieht, gewinnt diese Vorstellung an Plausibilität. Der Neoliberalismus steht außerdem in einer mehr als hundertjährigen Tradition, die unter „Staat“ lediglich Regierungshandeln im weitesten Sinne versteht. Gleichzeitig wird Regierungshandeln mit „bürokratischer Ineffizienz und Verschwendung“ verbunden sowie mit Gängelung, Bevormundung und unnötigen Eingriffen in die Handlungsautonomie der Individuen. Da ist es dann nur logisch, wenn man fordert, die Menschen sollten sich nicht „auf die Macht von Regierungen […] verlassen, um [ihre] Gesellschaften zu gestalten“.[13] Noch deutlicher formuliert: Der Staat ist das Problem, der Gegner, weil er anscheinend kein anderes Ziel kennt, als die freie wirtschaftliche Entfaltung zu erschweren, die glücklich macht und alle Probleme löst.
Die neoliberale Dichotomie von Bürger versus Staat
In der neoliberalen Dichotomie stehen die Individuen dem Staat einzeln gegenüber. Die neoliberale Vorstellung von der Freiheit des Einzelnen macht es den Bürgern schwer, sich selbst auch als Teil des Staates zu begreifen. Dabei sind sie in einer Demokratie eigentlich nicht „vom Staat“ getrennt. Sie sind der Staat. Sie sind der Souverän. Sie machen ihn aus. Und wenn sie nicht selbst regieren, wählen sie diejenigen, die es tun sollen – und kontrollieren diese auch, idealerweise. Der bekannte Ausschnitt aus dem Frontispiz des „Leviathan“ von Thomas Hobbes, aus einer heutigen Perspektive betrachtet, zeigt das Bild einer Gemeinschaft, die sich aus einzelnen Teilen zusammensetzt und zugleich dennoch ein Gesamtbild ergibt. Es zeigt ownership (Eigentümerschaft). Der Staat gehört den Bürgern, und die Bürger sind der Staat.
Was das neoliberale Weltbild hervorbringt, ist hingegen keine Idee von Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit. Es ist das Weltbild sich selbst genügender Individuen, die eigentlich nur durch die Funktionsweise des Marktes miteinander verbunden sind.[14] Daher Margaret Thatchers provokative Behauptung, wonach es keine Gesellschaft, sondern nur Individuen gebe. Sie ist Ausdruck einer sich verstärkenden Extremindividualisierung mit wenig Blick für den Nächsten, die Allgemeinheit und die schädlichen Effekte des eigenen konsumtiven Handelns.
Die Ablehnung von Verbot und Verzicht, die Vorstellung der Illegitimität staatlicher Verhaltensregulierung und „Bevormundung“, entspringen einem solchen Weltbild der Unverbundenheit und Gegnerschaft. Gute Politik, legitime Politik ist dann allein eine Politik des Unterlassens. Der Leviathan ist nicht mehr eine allen Halt und Sicherheit gebende Struktur, sondern nur noch das Monster Staat, das von außen versucht, die individuelle Freiheit zu untergraben. Oder wie es ausgerechnet Arnold Schwarzenegger so wunderbar körperlich ausdrückte: Der Staat ist das Monster, das einem im Nacken sitzt und auf die Füße tritt. Den Neoliberalismus kennzeichnet somit eine ausgeprägte Staatsphobie.
Gestaltung der Zukunft aus dem Geiste des Konsums – ohne jeden Plan
Unterlassen werden muss auch jede Form einer staatlichen Regulierung der Zukunft. Im Verständnis des Extremliberalismus ergeben sich notwendige strukturelle und institutionelle Anpassungen an neue äußere Rahmenbedingungen als ungeplante Konsequenzen wirtschaftlichen Interagierens. Der Markt wird es richten, wenn es so weit ist. Probleme der Zukunft durch staatliche Lenkung schon heute lösen zu wollen, funktioniere nicht. Auch hier spielt wieder die Konsumentensouveränität eine Rolle. Konsum ist nicht nur systemstabilisierend, er ist eine Norm. Wird nicht hemmungslos konsumiert, kann der Wettbewerbsmechanismus auch nicht funktionieren, können Herausforderungen nicht gemeistert werden.
Die von Neoliberalen verlangte Extremtoleranz gegenüber jedweder Konsumentscheidung als höchstem Ausweis von Souveränität und Autonomie erlaubt auch, dass niemandem bestimmte Konsumentscheidungen aus moralischen Gründen verwehrt werden sollten. Stattdessen setzt man ganz auf einen aufgeklärten, rationalen individuellen Entscheider, der vernünftige Entscheidungen trifft. Der Marktmechanismus bewertet Handlungen niemals moralisch. Auch das ist für Neoliberale ein Freiheitsbeweis.
Die Politik aus dem Geiste des Unterlassens, die auf der Überzeugung aufbaut, das Verhalten der Bürger nicht steuern zu dürfen, zeigt sich im deutschen Fall darin, dass das Regierungshandeln jahrelang kaum wirklich transformative Maßnahmen kannte, die das individuelle Verhalten einschränkten. Folgerichtig hat das Bundesverfassungsgericht in seiner wegweisenden Entscheidung im Mai 2021 die mit einer Transformation verbundenen Ziele und Maßnahmen in Form des Klimagesetzes aus dem Jahr 2020 als nicht ausreichend bezeichnet. Auch der Bundestagswahlkampf des Jahres 2021 zeichnete sich durch seine Inhaltslosigkeit aus, was konkrete Ansätze und Vorschläge für eine Transformation hin zu mehr Nachhaltigkeit anging. Selbst die Grünen bemühten sich, den Eindruck abzuschwächen, dass von ihnen eine transformative Verhaltenssteuerung ausgehen werde. Andere Parteien versuchten sich dagegen damit zu profilieren, in gewohnter Weise die Grünen als Verbots- und Verzichtspartei zu geißeln und gleichzeitig zu suggerieren, dass es offensichtlich keinerlei Verhaltenssteuerung angesichts der Klimakatastrophe bedürfe.
Hieran wird deutlich: Weite Teile der politischen Öffentlichkeit haben, so scheint es, gar keine Vorstellung mehr von einem im positiven Sinne gestaltenden Staat. Sie haben nur noch das Ideal einer Politik des Unterlassens vor Augen und verteidigen es vehement mit Stolz und Selbstbewusstsein.
Das neoliberale Selbstverständnis staatlicher Institutionen
Die negativen Konsequenzen einer solchen Haltung zeigten sich mit fataler Deutlichkeit und ganz konkret in der Coronakrise. Dass die Bürger im Sinne des Schutzes für Leib und Leben aller auch mit den Mitteln des Zwangs zum rettenden Impfen bewegt werden – oder zumindest die trotzig Ungeimpften mit Sanktionen belegt werden könnten –, schien keine Option einer Politik des Unterlassens zu sein. Auffällig war stattdessen, wie stark und wie früh die damalige Bundesregierung deutlich machte, auch in dieser Extremlage die autonome Entscheidungsfreiheit der Einzelnen als höchstes Gut zu bewerten und beispielsweise eine Impfpflicht von vornherein auszuschließen, weshalb die Ampel dann ja auch fast konsequenterweise am Versuch einer Einführung scheiterte. Offensichtlich steuert die neoliberale Norm der Marktlogik in der Postdemokratie nicht nur den einzelnen Bürger, der zum Konsumenten reduziert worden ist (Colin Crouch, der dies früh diagnostizierte, spricht daher von der „Kommerzialisierung der Staatsbürgerschaft“[15]), sondern sie formt auch das Selbstverständnis staatlicher Institutionen. Wenn der Wettbewerbsmechanismus als überlegen, effektiver und effizienter angesehen wird, sollten staatliche Institutionen so viele Elemente des Wettbewerbs und privatwirtschaftlicher Unternehmen übernehmen wie möglich. Die Politik aus dem Geiste des Unterlassens ist somit auch das Resultat einer neoliberalen Markthörigkeit der Politik. Politiker glauben selbst an die Unterlegenheit des Staates und der öffentlichen Institutionen und scheuen sich auch deswegen zu handeln.
Eine gesellschaftliche Transformation hin zu mehr Nachhaltigkeit ist jedoch kein ideologisches Hirngespinst. Sie ist eine klare Notwendigkeit. Die Gefahren für Klima und Umwelt, die von unserer Art zu leben, unserem Produktions- und Konsumverhalten ausgehen, sind seit Jahrzehnten bekannt. Zu glauben, Marktkräfte seien dazu in der Lage, sich auch in dieser Situation von allein so anzupassen, dass die Gefahr eines zu hohen Temperaturanstiegs auf der Erde abgewendet wird und die planetaren Lebensgrundlagen gesichert werden, ist vor dem Hintergrund der Entwicklungen der letzten dreißig Jahre illusorisch. Die Konsumfixierung, die Hyperindividualisierung, die fehlende Gemeinwohlorientierung mögen Folgen des Neoliberalismus sein. Im Grunde sind sie aber ein zivilisatorischer Rückschritt. Der Staat und die Demokratie werden geschwächt, der Einzelne ist nicht länger Citoyen, sondern nur noch Consommateur. Die Allgemeinheit hat er jedenfalls nicht mehr im Blick, nur noch sich selbst. Und wen er auch im Blick hat, ist der Gegner, das Monster Staat.
Die Klimakatastrophe braucht eine Politik der Aktion und eine Politik der Verhaltenssteuerung. Die möglichen Alternativen müssen Gegenstand demokratischer Sachdebatten sein. Wenn sie es aber endlich sind, ist es lachhaft, von einer drohenden Ökodikatur zu schwadronieren.
Politik darf neben Verhaltensregulierung durch Verbot und Verzicht auch nicht davor zurückschrecken, die Sachdiskussionen im demokratischen Diskurs mit Moralvorstellungen zu verbinden. Die fundamentale Herausforderung für eine nachhaltige Entwicklung, nämlich die Lebensgrundlagen für die uns nachfolgenden Generationen nicht zu zerstören, ist zutiefst moralischer Natur. Nur die Demokratie ist in der Lage, Politik mit Moral zu verbinden, ohne dass daraus das entsteht, wovor sich der neoliberale Gründungsvater Friedrich August von Hayek immer ängstigte: Zwang und Verlust von Freiheit. Die Neoliberalen hielten große Stücke darauf, dass individuelle Entscheidungen nicht moralisch bewertet werden dürfen. Aber ist das tatsächlich zeitgemäß? Oder steckt dahinter nicht nur eine extreme Ich-Bezogenheit und eben ein fatales Freiheitsverständnis, das nicht nur konsumtiv verengt ist, sondern auch die Freiheit von Verantwortung feiert?
Wie also weiter? Es bedarf eines grundsätzlich neuen gemeinsamen Verständnisses hinsichtlich unseres Bildes vom Staat. Wir dürfen nicht länger im Staat einen Gegner sehen, sondern wir müssen uns, wie im Kompositbild des Leviathan, selbst im Staat erkennen – als Bürgerinnen und Bürger, die durch ein Verantwortungsgefühl für andere und die Umwelt motiviert werden und sich miteinander verbunden fühlen. Dazu gehört auch die Maßgabe, unseren Extremindividualismus zu kontrollieren. Zur Not, in der wir uns gegenwärtig angesichts der Kumulation der Krisen ganz offensichtlich befinden, auch durch Verbot und Verzicht. Und ganz sicher nicht länger durch eine Politik des Unterlassens.
Der Beitrag basiert auf „Verbot und Verzicht. Politik aus dem Geiste des Unterlassens“, dem neuen Buch des Autors, das jüngst im Suhrkamp Verlag erschienen ist.
[1]Wissenschaftlicher Beirat Globale Umweltveränderungen (WBGU), Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation, Berlin 2011.
[2]Fritz Vahrenholt, Ökodiktatur pur, in: „Die Welt“, 27.5.2011.
[3]Carl Christian von Weizsäcker, Die Große Transformation: Ein Luftballon, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 30.9.2011.
[4]Ulf Poschardt, Wer bremst, verliert. Tempolimit – Auf dem Weg zum unmündigen Bürger, in: „Die Welt“, 9.5.2013.
[5]Bundesverband Rind und Schwein, „Verbotspolitik der Bundesregierung gefährdet Landwirtschaft“, www.rind-schwein.de.
[6]Manfred Schulze, VDA-Präsidentin: „Fortschrittswachstum statt Verbot und Verzicht“, in: „Deutsche Verkehrs-Zeitung“, www.dvz.de.
[7]Alexander Kain, Sonn- und Feiertagsverbot für Biker? Das sagt Minister Scheuer, in: „Passauer Neue Presse“, 25.5.2020.
[8]„Wir könnten woanders CO2 einsparen“. Interview mit Christian Lindner, in: „Wirtschaftswoche“, 18.1.2019.
[9]„Wir müssen auch beim Linksextremismus Grenzen deutlich aufzeigen“. Interview mit Raed Saleh und Franziska Giffey, in: „Der Tagesspiegel“, 19.10.2020.
[10]Brinkhaus: „Nackensteak-Esser sind das Rückgrat unserer Gesellschaft“, Redaktionsnetzwerk Deutschland, www.rnd.de, 26.1.2020.
[11]„Zumutungen bleiben nicht aus, wenn Menschen eng zusammenleben“. Interview mit Christina Stresemann, in: „Süddeutsche Zeitung“, 23./24.1.2021.
[12]Siehe dazu ausführlich Philipp Lepenies, Verbot und Verzicht, Berlin 2022, Kapitel III (S. 74-177).
[13]Quentin Skinner, Die drei Körper des Staates, Göttingen 2012, S. 79 und S. 82; siehe zur Frage, wie die Körpertheorie des Staates auf Demokratien angewendet werden kann, neben Quentin Skinner auch Philip Manow, Im Schatten des Königs, Frankfurt a. M. 2008.
[14]Siehe bspw. die Arbeiten des Chicagoer Nobelpreisträgers Gary S. Becker zur These, dass die Entscheidungen für eine Heirat auch in westlich liberalen Gesellschaften der Marktlogik folgen, A Theory of Marriage, in: Theodore W. Schultz (Hg.), Economics of the Family: Marriage, Children, and Human Capital, Chicago 1974, S. 299-351.
[15]Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt a. M. 2008, S. 58, siehe auch ders., Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus, Berlin 2011.